I. EinleitungDie Notation von Musik ist Schrift und damit ein Teilbereich allgemeiner Notationssysteme. Diese umfassen neben der schriftlichen Aufzeichnung auch Darstellungsweisen, die den Gegenstand nichtschriftlich überliefern, nämlich mittels oraler Notation (z. B. für die Anschlagsvariationen bei Schlaginstrumenten in afrikanischen Traditionen mittels mnemotechnischer Merksilben) oder multimedial wie in der griechisch-antiken Verbindung von Sprache, Gestik, Mimik, Masken, Tanz, Rhythmus und Melos (vgl. A./ J. Assmann 1992, Sp. 1417f.; G. Kubik 1988). Schriftliche Notationssysteme bannen einen seriellen, zeitlich versetzten Datenfluß in ein visuelles Feld und lösen dabei Teile der Kommunikation vom Kontext ihrer Entstehung. Aufzeichnungen akzentuieren, verkürzen und abstrahieren angesichts der Fülle des realen Klanggeschehens und beginnen ein Eigenleben als Dokumente, die verschiedene Lesarten zulassen, ja provozieren (H. Zender 1996; vgl. F. A. Kittler 1986). Sie ermöglichen durch Veränderung und Ausweitung des Gedächtnisses eine reflexive Haltung zum Notierten und zur Tradition, die in spezifischer Weise auf die Musik zurückwirken kann. Dabei bestimmt das Zusammenspiel vom technischen Medium der schriftlichen Musikdarstellung (Handschrift, Prachtcodex, Notendruck, Liederzettel, Computerausdruck usw.) mit den Funktionen der Musik, kulturellen Optionen und der Steuerung des Schriftgebrauches durch Institutionen, welche Potentiale von Notation jeweils aktiviert werden, aber auch, unter welchen Bedingungen es in Europa zur Entstehung und Entwicklung einer schriftlichen...