I. Einleitung
Der Begriff Sequenz bezeichnet einen Typus lateinischen liturgischen Gesanges, der im mittelalterlichen Europa vom 9. bis zur Mitte des 16. Jh. verbreitet war. Als Gattung erfuhr die Sequenz innerhalb ihrer achthundertjährigen Geschichte viele Wandlungen und trat in einer Vielfalt verschiedener Formen und Ausprägungen auf. Diese Vielfalt betrifft vor allem das Verhältnis zwischen Text und Musik: eine Sequenzmelodie konnte sowohl mit als auch ohne Text vorliegen, und eine bestimmte Melodie konnte verschiedene Texte haben. Trotz dieser Vielfalt bleiben gewisse Merkmale durch die ganze Gattungsgeschichte hindurch konstant, obgleich diese Merkmale nicht notwendig jede einzelne Sequenz kennzeichnen. Zum einen folgte die Sequenz, was ihren liturgischen Ort betrifft, dem Alleluia-Gesang der Messe und ging der Evangeliumslesung voran. Zum zweiten prägt in den meisten Formen ein Parallelismus des textlichen wie melodischen Baus das Strukturschema der Sequenz. Drittens ist das Verhältnis zwischen Text und Musik primär ein syllabisches. Zu allen diesen generellen Aspekten – also Funktion und liturgischer Ort, Parallelismus und Syllabizität – gibt es zahlreiche Ausnahmen.
Die Sequenz gehört zu jenen Gattungen, die in den ersten erhaltenen westeuropäischen Quellen mit Notation präsent sind (d. h. in Quellen vom Ende des 9./Anfang des 10. Jh. an). Voraus gehen den frühesten überkommenen...