I. Was ist Historismus?
Der musikalische Historismus des 19. und 20. Jh. ist ein zwiespältiges Phänomen: er erscheint einerseits als Überzeugung oder Denkform, andererseits als Verhalten oder Praxis. Charakteristisch für die Denkform, die von Historikern als Historismus bezeichnet wird, ohne daß der Begriff negativ gefärbt wäre, ist »der Sinn für Individualität und Entwicklung in der Geschichte, der Sinn für das stetige Fließen und Sich-Wandeln aller menschlichen Gebilde« (Friedrich Meinecke 1936). Historismus in einer engeren, schärfer umrissenen Bedeutung ist jedoch erst die Überzeugung, daß ein musikalisches Gebilde »nichts als« Geschichte sei, daß die »Historizität«, die »Geschichtlichkeit« das Wesen und die Substanz der Musik ausmache. Einem Historisten, der vor extremen Konsequenzen nicht zurückscheut, ist sowohl der Begriff des »Klassischen« als auch der des »Natürlichen« suspekt. Die Vorstellung, daß bedeutende musikalische Werke aus der Geschichte herausragen und ihren ästhetischen Gehalt unverändert bewahren, erscheint ihm als naive Metaphysik; und die Naturgegebenheiten, in denen nach der Überzeugung früherer Epochen die Musik wurzelt, schrumpfen im Zeitalter des Historismus, sofern sie nicht schlechthin bestritten werden, zu geringen Resten. (Als Natur der Musik, die nicht verletzt werden dürfe, galt noch zu Anfang des...