I. Zur Terminologie: performative und hermeneutische Interpretation
Der Begriff der Interpretation faßt eine für unsere Zeit charakteristische Kategorie, in der wir Musik auch aus früheren Epochen ästhetisch und hermeneutisch vergegenwärtigen. Die Schriftlichkeit musikalischer Komposition und der sich daraus entwickelnde Werkbegriff haben zwar über Jahrhunderte bestanden und damit auch das Problem der klanglichen Realisierung, doch erscheint es wenig zweckmäßig, den geschichtlich jungen Begriff der musikalischen Interpretation mit den von ihm ausgehenden Implikationen auf jegliche historische Form der Klangrealisation von Musik auszudehnen. Erst vergleichsweise spät – im 19. Jh. – ergab sich die Möglichkeit, noch später – im 20. Jh. – die Notwendigkeit einer ›Interpretation‹ der notierten Musik. Wie wenig der Terminus noch um die Mitte unseres Jahrhunderts eingebürgert war bzw. vom Denken einer eher konservativen Musikwissenschaft reflektiert wurde, zeigt sich an der Tatsache, daß in die erste Auflage der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart kein Artikel Interpretation aufgenommen wurde, schien doch dessen Gegenstandsfeld durch benachbarte Begriffe wie →Aufführungspraxis und →Vortrag (vgl. den Artikel Vortrag von Ulrich Siegele in MGG, 1. Aufl., Bd. 14, Sp. 16-31) abgedeckt. Wie sich indessen in der Musikhistoriographie – spätestens...