I. Zur Geschichte der spätmittelalterlichen Geißlerbewegung
Im Gegensatz zur Selbstgeißelung als einer individuellen und privaten Form asketischer Kasteiung inszenierten die Geißler (Flagellanten) die Selbstgeißelung als öffentliche Bußübungen bei prozessionsartigen, von volkssprachigen Liedern (Geißlerliedern) begleiteten Umzügen. Diese Laienbewegungen verstanden sich nicht als kirchenfeindlich oder als häretisch, da sie aber ihre Bußpraktiken für wirkungsvoller als die kirchlichen Bußübungen ansahen, schließt das Geißlertum ein kirchenkritisches und wohl auch ein antiklerikales Moment ein. Die Geißler wurden durch Papst Klemens VI. in einer Bulle vom 20. Oktober 1349 verboten. Die Kraft der Geißlerbewegung war damit gebrochen, dennoch flammte sie bis ins 15. Jh. mehrmals kurz und insgesamt ohne größere Wirkung auf. Dagegen strahlten die Geißlerbewegungen um 1260 und 1348/49 überregional aus.
1. Die Bewegung um 1260
Die erste Geißlerbewegung nahm 1258 in Umbrien ihren Ausgang. Auslöser soll Raniero Fasani, ein Eremit aus der Gegend von Perugia, gewesen sein, der auf der Grundlage einer Vision in Gefolge einer Selbstgeißelung und eines dabei erhaltenen Himmelsbriefes (s. 2.) die Bewohner der Stadt zur tätigen Buße aufrief, um den Zorn Gottes abzuwenden. Die Bewegung formierte sich dann in Laienbruderschaften, in denen die Geißler – ital. flagellanti, disciplinati,...